Wir kommen in Estland an und fahren nicht nach Tallinn hinein sondern bewegen uns erstmal Richtung Laheema Nationalpark. Wir erkunden ein altes Kraftwerk und erkennen bald, dass Nationalparks hier nicht so zugänglich sind wie in Finnland. Es fehlt schlicht an Beschilderungen, Startplätzen, Infotafeln mit Wegen und Längen.
Egal. Wir sammlen statt dessen Blaubeeren im Wald. Dort treffe ich auf den ersten angeblich so schweigsamen Esten, der mich unentwegs unverständlich volltextet. Kein Wort klingt mir bekannt.
Er macht große Gesten und versucht mir irgendwas zu erklären.
Irgendetwas sehr Großes! Er sagt irgendwas wie Milas.
Ich freue mich über seinen Enthusiasmus, verstehe beim besten Willen nicht was er sagen will. Wir tanzen große Gesten, er tanzt sie vor ich tanze sie fragend nach, Ute kommt aus dem Wald und schaut uns genauso fragend an. Er hat eine bessere Idee und sucht eine Ewigkeit in seinem Handy. Wankt dabei gewaltig und naja riecht nach viel Alkohol.
Dann zeigt er ein Bild, das er selbst geschossen hat.
Er muss lebensmüde sein. Hätte er einmal Brumm oder so gesagt, hätte ich sofort verstanden. Er ist ganz sicher nicht der Sieger in Scharade, aber er ist ein recht mutiger Mensch, einer Braunbärin mit ihren vier Jungen aus kürzester Distanz in der Nacht ins Gesicht zu Blitzen.
So wenigstens sieht das Foto aus von dem Bären mit den roten Augen, der uns auf seinem Handy anstarrt.
Wir bedanken uns, der steigt auf sein Fahrrad, fährt 100 Meter weiter, fällt in den Graben, richtet sich auf und lehnt an einem Baum, dort unten, während wir vorbeifahren, als habe er genau das geplant – hier zu stehen.



Das also war er. Der erste Este. Esten reden nicht.
Esten sind angeblich noch schlimmer als Finnen und grüßen nur Menschen zurück, die sie schon kennen, aber wer weiß die Ausnahme bestätigt die Regel. Und Nordfriesen reden ja auch nicht und ich glaube kaum, dass einer meiner Freunde das bei mir bestätigen kann.

Was machen wir also noch an diesem ersten halben Tag in Estland.


Wir finden dank Google doch noch einen Startpunkt für einen Wanderstrecke, die genauso schlecht beschrieben ist wie alles zuvor. Aber wir nutzen Luftbilder und wandern irgendwann auf Planken durch ein Moorgebiet. Diese Planken – steht stolz auf einem Schild beschrieben – haben sie sich bei den Finnen abgeschaut. Überall wirkt es als sei Finnland der große Bruder. Auch die Sprache hat irgendwo den gleichen Ursprung, die kaum jemand bis heute kennt. Wir erkennen sofort Ähnlichkeiten in einfachen Wörten wie zB Strand.

Heute Nacht entdecken wir die RMK Plätze für uns. Es gibt nämlich nicht nur das Jedermanssrecht sondern den Esten ist es wichtig ihrer Bevölkerung die Natur nahezubringen und in einem Land mit 50 % Waldanteil, gibt es da eine Menge zu zeigen. Dafür wurde das RMK gegründet, das überall (Lager-/Camping-) Plätze, im ganzen Land errichtet. Es sind meistens richtige überdachte Grills, oft überdachte Tische und Bänke, Toiletten, Feuerstellen und Holz. Das ganze in enormer Menge. Wir sind auf unserer Reise an Plätze gekommen mit bis zu 3 km Länge und an die 50-60 Lagerplätze bestehend aus dem genannten Set.

An so einem Platz lagern wir am Meer bevor der große Regen kommt.
Wir lassen uns aber von unserem Vorhaben nicht abringen und reisen trotz Dauerregen ohne einen einzige Unterbrechung, dennoch Richtung Osten und damit wieder Richtung St Petersburg.

Wir besuchen schöne Ruinen von Herrenhäusern, Landgütern, Kirchen und einer ehemaligen Burg, bevor wir einen Wasserfall besuchen, der jährlich weiter flussaufwärts wandert und unter dem man hindurch wandern kann.
Auch eine lange Hängebrücke, die in der Mitte auf dem Wasser schwimmt besuchen wir.



Wir kommen durch Orte, die ganz anders sind als sonst in Estland. Sie wirken wir tiefstes Russland. Die Plattenbauten sind uralt, die alten Eisentüren bis zur Hälfte weggerostet, der Coop wirkt als wären wir in Kasachstan auf dem Land.
Erst später erfahren wir, dass in Estland 300.000 Menschen keine Rechte haben: Sie dürfen nicht wählen, sie dürfen bestimmte Berufe nicht ausüben, kriegen keine Rente, dürfen das Land nicht verlassen, ihre Kinder bekommen keine Staatsangehörigkeit, obwohl sie hier geboren sind. Sie werden als Nichtbürger geführt. Es sind Russen, die vor der Unabhängigkeit Estlands hier her gezgogen sind und die Estland nicht haben will. Jede Kritik der EU und jeder Versuch das zu ändern ist bisher gescheitert. Da wir auf unserer ganzen Reisen durch Estland, solche Orte nicht mehr gesehen haben, sind wir ziemlich sicher, dass wir genau diese Menschen hier gesehen haben und es macht wütend und traurig zugleich, dass Estland sich in diesem Punkt nicht weiterentwickelt. (Lettland hat das gleiche Thema).



Das das alles so ist, wissen wir an diesem Tag noch nicht und steuern auf Tallinn zu. Eine Stadt die außen hässlich und innen wirklich schön ist.